Aus dem TagesAnzeiger vom 19. Oktober 2012
Studien haben den Expertenstreit um die Wirksamkeit von Therapien gegen Depressionen neu entfacht. Kritiker glauben, dass Medikamente nicht mehr helfen als Behandlungen mit Placebos.
Auf den ersten Blick sieht es nach einer dringend benötigten guten Nachricht für die Verfechter von Antidepressiva aus: Zwei der am häufigsten verschriebenen Mittel seien «bei Depressionen wirksam», bilanziert eine unlängst erschienene Auswertung im renommierten Fachblatt «Archives of General Psychiatry», die auf Daten von gut 9000 Studienteilnehmern beruht. Die Studie bestätige frühere Ergebnisse nicht, nach denen Antidepressiva ausser bei schweren Depressionen kaum helfen würden, schreibt das Autorenteam um Robert Gibbons von der University of Chicago.
Was für Aussenstehende überraschend klingen mag, könnte für manche Psychiater tatsächlich so etwas wie eine Entwarnung sein. Der Grund: In den letzten Jahren zeigten verschiedene Studien, dass die Wirkung von Antidepressiva im Vergleich zu Placebos bescheiden ist – und haben damit unter Fachleuten eine Kontroverse ausgelöst. Doch die neue Studie wird die Auseinandersetzungen nicht beenden. Im Gegenteil, wie die Reaktion von Irving Kirsch zeigt. Der Psychologieprofessor von der University of Plymouth findet in seinen Studien bei Antidepressiva seit Jahren eine bestenfalls bescheidene Wirksamkeit. Zur Analyse des Gibbons-Teams vermerkt er trocken, deren Ergebnisse seien auch nicht besser. «Der einzige Unterschied zwischen ihren Resultaten und unseren ist, dass sie es einen Erfolg nennen.»
Häufig verschrieben
Der Expertenstreit ist für viele Menschen von enormer Bedeutung. Etwa jeder Sechste erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression. Antidepressiva tragen mit dazu bei, dass Medikamente gegen psychische Erkrankungen in der Schweiz heute die Verschreibungsstatistik anführen. Mit einem Marktanteil von fast 17 Prozent liegen sie deutlich vor Mitteln gegen Herzprobleme oder Infektionen. Besonders häufig werden Antidepressiva älteren Menschen verordnet. Doch ausgerechnet in dieser Altersgruppe kann auch die Gibbons-Studie keinen Nutzen belegen.
Die Mittel haben es schwer in Untersuchungen, weil etwa 30 Prozent der Depressiven auch mit einem Placebo aus der Krise herauskommen. Daran gemessen wirkt die Erfolgsquote der Medikamente von 43 Prozent in der neuen Studie recht mässig. Ein Dilemma für Fachleute wie Erich Seifritz von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er ist überzeugt, dass «die realen Effekte grösser sind». Allerdings lassen auch die Wirkungen unter Alltagsbedingungen zu wünschen übrig, wie die realistisch angelegte Star-D-Studie zeigt. In diesem Grossversuch des amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) hatte nach einem Jahr nur jeder Vierte seine Depression ohne Rückfall überwunden.
Dazu kommen die Nebenwirkungen. Die in den 80er-Jahren eingeführten Wirkstoffe quälen die Patienten zwar weniger als ihre Vorgänger mit Mundtrockenheit, Verstopfung und Sehproblemen. Doch auch Fluoxetin (Prozac) und seine Verwandten fordern ihren Preis. Schon lange ist bekannt, dass sie nicht nur für Magenbeschwerden und mangelnden Appetit sorgen können, sondern auch für sexuelle Probleme. Und je genauer Forscher hinsehen, desto mehr verborgene Risiken finden sie.So untersuchten Forscher mehrerer taiwanischer Universitäten um Chia-Ming Chang, wie sich Antidepressiva auf die Fahrtauglichkeit auswirken. Ergebnis der gerade online vorab veröffentlichten Studie mit Daten von über 36’000 Autofahrern: Wer die Pillen schluckt, verursacht fast doppelt so oft einen Unfall. Um auszuschliessen, dass dafür die Depressionen selbst verantwortlich sind, erfassten die Forscher die Besuche bei Psychiatern und korrigierten ihre Ergebnisse entsprechend.
Abwägen bei Schwangeren
Gleich eine ganze Welle von neuen Studien legt Vorsicht beim Einsatz in der Schwangerschaft nahe. Bei den werdenden Müttern erhöhen Antidepressiva die Gefahr, an Bluthochdruck zu erkranken. Bei den Babys wiederum wird häufiger Lungenhochdruck registriert. Ausserdem wächst die Gefahr einer Frühgeburt. Andererseits ist eine unbehandelte Depression nicht nur für die Mutter schlecht, sondern auch für das Baby. Es wächst im Mutterleib nicht so gut, und nach der Geburt tun sich depressive Mütter oft schwer, auf die emotionalen Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen. Für Seifritz ist die «medikamentöse Therapie immer ein Abwägen zwischen verschiedenen Risiken für Mutter und Kind». Seiner Meinung nach gehört die Behandlung von Schwangeren und Stillenden mit Depressionen in die Hand des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, oder zumindest sollte ein solcher in die Therapieentscheidungen einbezogen werden.
In jedem Fall besteht eine zeitgemässe Depressionstherapie nicht nur aus Pillen. Darüber sind sich die meisten Fachleute einig, auch wenn in der Praxis viele Patienten allenfalls noch ein paar tröstende Worte vom Arzt bekommen. Bei leichten Depressionen kann zunächst sogar ganz auf Medikamente verzichtet werden. Bessert sich der Zustand nicht, empfehlen Experten Antidepressiva, Psychotherapie und soziale Unterstützung zu kombinieren.
Sport statt Psychotherapie?
Solch eine umfassende Strategie ist momentan die beste Wette. Wie sehr und vor allem warum die kombinierten Massnahmen helfen, ist allerdings eine andere Frage. Skeptiker Kirsch hat dazu gerade zusammen mit Arif Khan eine neue Analyse veröffentlicht, die auf Daten von 24’000 Patienten beruht. Demnach schneidet die Kombination von Medikamenten und Psychotherapie in vielen Studien vor allem deshalb am besten ab, weil die Ärzte dies glauben und bei der Einschätzung des Therapieerfolgs wissen, wie der Patient behandelt wurde. Wissen sie es nicht, ist die Kombination Medikamenten oder Psychotherapie allein kaum noch überlegen. Und weder Medikamente noch Psychotherapie sind dann besser als Sport, Akupunktur oder Pseudobehandlungen.
Wenn so unterschiedliche Behandlungen aber gleich wirken, argumentieren die Forscher, kommt es womöglich gar nicht darauf an, was gegen Depressionen unternommen wird. Sie greifen damit eine These auf, die der renommierte Psychiatrie-Professor Jerome Frank vor einem halben Jahrhundert in seinem Buch «Die Heiler» entwickelt hat: Entscheidend sei, dass der Patient gründlich untersucht werde, eine Erklärung für sein Leiden erhalte, Hoffnung schöpfe und schliesslich ein therapeutisches Ritual mit einem anerkannten Experten praktizierte. Ob der Spezialist eine Arznei verabreicht oder Akupunkturnadeln sticht, ist nicht wichtig, solange der Patient daran glaubt. Mit dieser Erklärung der Erfolge der Depressionsbehandlung dürfte für weitere Diskussionen gesorgt sein.